Zentrale Studienberatung

 

Der Übergang von der Schule zur Universität

 

Was unterscheidet die Schule oder zumindest deren „differenzierende Oberstufe“ von der Universität? Gibt es überhaupt noch einen Unterschied und beschreiben die Schlagwörter von der „Verwissenschaftlichung der Schule“ und derVerschulung der Universität“ eine Wirklichkeit? Oder sind diese Schlagwörter nicht vielmehr Resultat einer Wahrnehmungsschwäche.

Der folgende Aufsatz soll der Wahrnehmung von Unterschieden dienen; er ist entstanden aus dem Material psychologischer Behandlungen von Student(inn)en mit Studienproblemen. Aus Raumgründen wird hier auf die Darstellung dieses Materials verzichtet und nur die systematische Darstellung der übergeordneten Betrachtungsweise, die sich aus der Rekonstruktion ergibt, wiedergegeben.

 

I.    Die Entwicklung der Gefühlsbindung

Kennzeichen der Schulzeit — und es ist bei genauerer Betrachtung eine unglaubliche Entwicklungsspanne vom 6jährigen Kind bis zum 18jährigen Abiturienten — ist die Pädagogik: Mit der Einführung der Schulzeit hebt sich von der zuvor automatisch erfolgten Unterrichtung der Kinder durch die Eltern sowie die Umgebung eine methodisch geplante Unterrichtung der Kinder durch die Schule ab. Mit dieser Erfindung“ von Schule differenziert sich gleichzeitig die Zeit des Kindes in Schulzeit und Freizeit.

Vom Kind wird dabei verlangt, daß es einen Teil seiner Gefühlsbindungen an die Eltern auf eine Elternersatzfigur, den Lehrer, übertragen kann. Dies Beziehung zum Lehrer ist für den Schulerfolg wichtig und findet in bezug auf den Unterrichtserfolg eine Parallele in der Didaktisierung des Unterrichtsstoffes. Ebenso wie die Leistungen des Schulkindes nicht nur seinen „intellektuellen Fähigkeiten“, sondern auch von seinen Gefühlen zur Lehrperson abhängen, so hängt der Unterrichtserfolg des Lehrers nicht nur vom Schwierigkeitsgrad des Stoffes, sondern auch von der Art seiner Vermittlung ab.

Die Bindung des Schulkindes an die Person des Lehrers ebenso wie die Bedeutung der Didaktisierung für den Unterricht behalten für die gesamte Schulzeit ihre Gültigkeit, auch wenn sie eine Entwicklung in ihrem Ausmaß durchmachen; und auf diesen Entwicklungsprozeß kommt es — psychologisch gesehen —an.

II. Die Entstehung von Sinn und Interesse

Ist die Bedeutung, die die Gefühlsbindung an die Lehrperson hat, zunächst eine sehr große, geht diese — wenn alles gutgeht —allmählich zurück. Der Schüler lernt, auch mit den Lehrern zurechtzukommen, die er nicht sonderlich oder auch gar nicht mag. Gleichzeitig findet eine gegenläufige Entwicklung statt: Indem ein Fach von seinen Anfängen über verschiedene Stufen und Schwierigkeitsgrade vorangetrieben wird, bis es zu einer ersten Rundung kommt, macht der Schüler die Erfahrung, wie das Gelernte zu einem Etwas wird, wie es einen Sinn bekommt. Es ist also ein neues Gebilde entstanden, das dem Fach Sinn gibt und von Seiten des Schülers Interesse genannt wird. Sinn und Interesse sind also zwei Seiten einer Sache. Dieses neue Gebilde, das tatsächlich zwischen (Inter) dem zu rezipierenden Stoff und dem Rezipienten liegt, wird auch als „Bildung“ bezeichnet, die in Vernachlässigung ihres Entstehungsvorgangs als ein Haben von Kenntnissen veräußerlicht wird. Wenn mit Karl Kraus Bildung „der Inbegriff all dessen“ ist, „was vergessen werden kann“, dann bleibt jenes genannte Interesse, das sich selbst weiterentwickeln kann, und dessen Kern in der Schule gelegt wird. Gebildet ist dann der, bei dem sich etwas gebildet hat, nämlich ein Interessenkern.

III. Ablösung und Übertragung

Es gibt also zwei gegenläufige Bewegungen, die sich am Ende der Schulzeit treffen: Die abnehmende Gefühlsbindung an den Lehrer, also eine Loslösung und Reifung, und die zunehmende Erfahrung, wie das Gelernte sich entwickelt, wie es eine Form und eine Rundung bekommt, kurz: wie ein Fach Sinn gewinnt. Auf diese Weise kann ein Stück Gefühlsbindung an den Lehrer losgelöst werden; diese wird nun freier verfügbar und kann auf anderes, z. B. ein Unterrichtsfach übertragen werden. Die Interessenbildung geschieht also durch Übertragung von Anteilen der Gefühlsbindung an eine Lehrperson auf einen Gegenstandsbereich.

Die Übertragung geht nun — wie bereits die einfache Erfahrung zeigt — nicht so vor sich, daß das Fach des Lieblingslehrers zum Interessengebiet des Schülers würde. Obwohl das so sein kann, stünde dieser Vorgang jedoch unter der Gefahr, daß eben keine ausreichende Lösung der Gefühlsbindung stattgefunden hat. Durch die Didaktisierung des Unterrichtsstoffes und das Engagement des Lehrers wird nämlich die Fähigkeit, sich überhaupt für ein Fach interessieren zu können, transponiert, also die Interessenbildung als solche, nicht der Inhalt des Interesses. Sich für ein Fach überhaupt begeistern zu können, daß ist es, was übertragen wird, und der Schüler kann dann diese Leerform mit seinen Inhalten füllen. Damit wird die Interessenbildung des Schülers frei von den zufälligen Verknüpfungen eines Unterrichtsfaches mit bestimmten Lehrern, zu denen besonders intensive Beziehungen bestanden.

IV. Entfaltung des Interesses an der Universität

Die Interessenbildung erweist sich also als der Angelpunkt der Studieneignung. Es dürfte deutlich geworden sein, daß der alltägliche Gebrauch des Wortes „Interesse“ also jeweils zu hinterfragen ist, ob es sich dabei um jenes oberflächliche „das könnte mich reizen“ handelt oder um etwas bereits Gewordenes, das sich auch selbst weiterformen möchte. Dieser Interessenkern wird dann an der Universität entfaltet zu einem Gegenstand, der Richtschnur für das weitere Vorgehen, das Studium, wird (studere = sich bemühen, sich ereifern). Die in der Schule an vorgegebene Lehrer gebundenen Gefühle werden nun frei, um sich an die Hochschullehrer zu binden, die die interessanteste Entwicklung des Gegenstandes versprechen.

V. Konsequenzen

Die beste Vorbereitung für die Universität ist also nicht die Einführung in oder gar die Vorwegnahme universitärer Inhalte und Methoden, sondern eine Hochform von Schule, weil diese am besten den Prozeß der Interessen-Bildung durch Ablösung und Übertragung fördern und so den Abschluß der Schule in Gang setzen kann. Das läßt sich anschaulich an einem allgemeinen Studienproblem darstellen:

Zu Beginn des Studiums wird häufig die Erfahrung gemacht, daß man mit der Aufnahme des Dargebotenen und der Nacharbeitung nicht mehr mitkommt. Hier ist es nun für den Studienerfolg entscheidend, ob es dem Studenten gelingt, Kontakt zu seinen Kommilitonen herzustellen, um Solidarität zu erfahren und um Arbeitsgruppen bilden zu können. Diese Fähigkeit, eine Selbständigkeitsfunktion, die in der Schulzeit nicht im Unterricht, sondern in der notwendigen Freizeit erworben wird, ist entscheidender als ein möglichst weit vorangetriebener Wissensstandard des Schülers. Denn nicht das Wissensniveau ist es, sondern die Interessenbildung, die den Studenten nach neuen Methoden (Arbeitsgruppen bilden) suchen läßt, während der übertrainierte Schüler seinen Schulmethoden verhaftet bleibt und sich verzweifelt bemüht, diese in die Universität zu übertragen. Hier liegen dann Ursachen für typische Studienprobleme, die auf dem Versuch beruhen, Methoden, die sich zuvor in der Schule ja bewährt haben, unverändert in der Universität fortsetzen zu wollen, was in der psychologischen Behandlung dann zu Tage tritt.

Rainer Mannheim-Rouzeaud

Düsseldorfer Uni-Zeitung, Jahrgang 21-Nr. 1/92

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