Bilder des Wissens

Warum auch gute Schüler an der Universität scheitern

Autor:
Rainer Mannheim-Rouzeaud

 

Die psychologische Behandlung von Studenten, die während der ersten Semester in Studienprobleme geraten, bringt reichlich Material hervor, das besonders geeignet ist, die Übergangsprobleme, die beim Wechsel von der Schule zur Universität entstehen, zu beobachten; denn die Nahtstelle bzw. der Kippunkt vom erfolgreichen Schulabschluß zum nicht gelingenden Einstieg in die Universität gerät hier wie von selbst in den Blick. Voraussetzung ist allerdings, sich auf „Gestalten im Übergang“ (SALBER 1980, 12ff) einlassen zu können, sonst setzen sich leicht allzu grobe Muster durch, welche die Wahrnehmung behindern.

Ein solch zu grobes Muster scheint mir die Vorstellung von der Einlinigkeit des Lernens zu sein, das mit dem folgenden Bild einhergeht: Auf der einen Seite gebe es einen Berg von Kenntnissen, auf der anderen den Rezipienten, der sich diese Kenntnisse anzueignen habe. Gemäß diesem Modell der Aneignung gibt es eine Entwicklung des Immer-mehr-Lernens. Das Lernen in der Schule und das in der Universität unterscheiden sich letztlich nicht. Universitäres Lernen ist nur ein ‚Mehr-Desselben‘ (WATZLAWICK 1974, 51ff) — ein weiterer Erwerb von Kenntnissen. Nach diesem Aneignungsmodell müßten gute Schüler durchgängig vergleichsweise weniger Probleme mit dem Studium haben. Die Erfahrungen psychologischer Behandlungen können das nicht bestätigen. Vielmehr läßt sich — ein Ergebnis dieser Arbeit vorwegnehmend — feststellen: Wurde in der Schulzeit eine sehr gute Lösungsform gefunden, dann erwächst gerade daraus ein Problem für das Studium.

Zunächst einmal möchte ich drei typische Formen von Studienproblemen vorstellen, die sich durch Beschreibung aus dem Material der psychologischen Behandlungen herausheben lassen. Mit dieser Typisierung ist kein Anspruch auf übergreifende Systematik oder Vollzähligkeit verbunden; eine systematische psychologische Untersuchung des Studierens, die nicht nur die Formen drohenden Scheiterns umfaßt, hat DELLEN 1977 vorgelegt. Es sollen hier nur drei besonders prägnante Typisierungen dargestellt werden, die deswegen interessant sind, weil ihnen feste Vorstellungsbilder vom Wissen zugrundeliegen. Dabei zeigt sich, daß die individuellen Fall-Schicksale strukturelle Gemeinsamkeiten haben, die wiederum bezogen sind auf die Entwicklungsnotwendigkeiten des Lernens beim Übergang von der Schule zur Universität.

Typus 1: Wissen ist Macht

Studierende dieses Typus versuchen, in der Beziehung zu den Dozenten ein Feld herzustellen, in dem es um Über- und Unterordnungen geht. Gelernt wird, um es jemandem zu beweisen. Macht und Ohnmachtserlebnisse werden zu reinszenieren und gleichzeitig verborgen zu halten gesucht. Während in der Schule diese Form durch Schulpflicht, Notengebung, Bindung an den Lehrer gut gelebt werden konnte, im Anspornen sogar noch Förderung erfuhr, gerät das Wiederholen von Machtszenarien im Freiraum der Universität in eine Krise, weil sich hier für das Beweisprogramm niemand so recht interessiert. Auch ist der Aufwand viel zu groß, um ihn an der Vielzahl der in der Universität auftretenden Dozenten jeweils neu betreiben zu können. Schnell ist dann „die Luft aus dem Studium draußen“ (Zitat eines Klienten), und die Vielfalt des universitären Angebots wird sich zu einem Oben-unten- ‚Reich-arm-Problem zu vereinfachen gesucht. Die Form dieses Studiums ist so angelegt, als ob Wissen Macht sei, und das Programm darauf ausgerichtet, dies zu beweisen.

Typus II: Wissen ist Nahrung

Den Studierenden dieses Typus geht es darum, durch Lernen Anerkennung und Wohlwollen gewinnen zu wollen. Sie handeln so, als ob Wissen eine Art Nahrung sei, die man sich möglichst umfangreich einzuverleiben habe. In der Schule handelte es sich dabei um sehr fleißige Schüler, die oft weit über das notwendige Maß hinaus lernten. Der Universitätsstart gelingt ihnen zunächst gut, aber dann geraten sie rasch in Kapazitätsprobleme. Die Stoffülle macht es unmöglich, sich wie zuvor alle Gebiete komplett aneignen zu wollen. Auswahl treffen und Lücken lassen bedrohen aber das angestrebte Wohlwollen. Und wie beim Typus ‚Wissen ist Macht‘ sich niemand so recht für dessen ‚Machtspielchen‘ interessieren will, so bleibt an der Universität das Wohlwollen der Dozenten für Fleißleistungen weit hinter dem Bedürfnis, das der Schullehrer zu stillen in der Lage war, zurück.

Typus III: Wissen ist Glanz

Als Schüler haben diese Studierenden erfahren, wie sie mit raschen ersten Schritten Bewunderung erregen konnten, und sie rechnen nun fest mit einer Wiederholung. Gerne sehen sie sich in der Phantasie bereits als Frau oder Herr Dr. Es kommt zu einer ständigen Wiederholung der ersten raschen Schritte, die früher einmal zum Erfolg geführt haben. Aber auf der Universität will sich die Bewunderung der anderen nicht so rasch einstellen, ein Gedankenblitz ist noch kein Referat. Und das Lob des Dozenten, wer interessiert sich hier schon dafür? Und der Doktortitel ist noch weit, sehr weit entfernt. Ein längeres Durchhalten, eine Abfolge von Schritten wird aber vermieden, statt dessen bei Mißerfolgen sich nach außen gewandt. Es werden dann Aktivitäten außerhalb der Universität gesucht, häufig verlegt man sich aufs Jobben. Besonders die Arbeit hinter der Kneipentheke scheint geeignet, die Gratwanderung zwischen Glanz (selbstverdientes Studium) und Gewöhnlichkeit (die ins Vulgäre abzurutschen droht) weiter zu ermöglichen.

Alle diese drei Formen haben sich in der Schule als sehr erfolgreich bewährt. Sie fallen dadurch auf, daß sie besonders rund, abgeschlossen, für die Schule gelungen sind. Es ist auch leicht zu sehen, daß sie entwicklungspsychologisch aus vorschulischen unlösbaren Problemlagen hervorgegangen sind. Übertragen wurden Machtinszenierungen, Bindungs- und Trennungsszenarien sowie Erfolgsprogramme. Die Schule gab diesen Bedürfnissen Raum und Richtung, so daß etwas — der Schulerfolg — dabei herauskommen konnte, während sie zuvor im Elternhaus zwar ständig angeregt, aber auch gleichzeitig unterdrückt gewesen waren. In der Schulzeit waren wirkliche Kompensationen möglich:

Im Elternhaus waren Kinder des Typus 1 häufig Machtszenen ausgesetzt, ohne daß sie sich selbst auch nur in Ansätzen als machtvoll hätten erleben können. In der Schule war nun mit dem Lernen ein Triumph möglich geworden, und der Lernstoff konnte nicht weggenommen werden. Wissen war wirklich wie Macht geworden. Die Entwicklung des Typus II verlief über die Erfahrung der permanenten Trennungsdrohung, wenn sich das Kind nicht wunschgemäß verhalten wollte. Die Aneignung des Lernstoffes in der Schule ermöglichte nun Wohlwollen, das nicht mehr gefährdet war. Wissen war wie Nahrung geworden, die nie versiegte. Und für den Typus III wurde das Lernen zum sicher zur Verfügung stehenden Reservoir für Bewunderung und Erfolg in einer sonst eher von Beeinträchtigungen bedrohten Welt.

Was in der Schule als Kompensation gelebt werden konnte, erfuhr hier aber auch eine Verfestigung. Es fällt auf, daß diese Studenten eine Art totaler Schule lebten. Die Schule füllte ihre ganze Lebenswelt, und die Freizeit nahm als eigenständige Zeit, in der anderes entwickelt werden konnte, kaum Raum ein. Selbständigkeitsfunktionen, die bei außerschulischen Unternehmungen, beim ersten Umgang mit dem anderen Geschlecht, beim Umgang mit eigenem Geld entwickelt werden und die für den Einstieg in das Studentenleben von Bedeutung sind, wurden kaum gefördert. Die perfekte, nur auf die Schule ausgerichtete Lösungsform behinderte zugleich den Prozeß der „Ablösung durch Interessenbildung“ (MANNHEIM-ROUZEAUD 1992). Die Bindung dieser Schüler an geliebte oder befehdete Lehrerpersonen bleibt außerordentlich stark, da diese Formen den Gegenpart brauchen.

Die Interessenbildung — sie ist das entscheidende Merkmal der Studieneignung —. ist beeinträchtigt, weil seelische Grundbedürfnisse nicht ausreichend übertragen werden können, sondern in feste Verhaltensformen eingeschmolzen sind, geronnen in Bildern von der Instrumentalisierung des Wissens. Für die Erfahrung, daß Wissen sich durchaus nicht instrumentalisieren läßt, für ein Leiden-Können von Wissenschaft ist kein Raum mehr vorhanden; ein Leiden-Können im doppelten Wortsinn, im Sinne von Interesse für den Gegenstand und im Sinne eines Leidens daran, daß Wissen eben nicht ohne weiteres verwertbar ist.

Freiraum und Krise

Es ist kein Zufall, daß es gerade der Freiraum der Universität ist mit seinen Erfordernissen, die Interessen selbst weiter zu entwickeln, an dem die alten Schulmethoden zum Problem werden. Jetzt wird die Verschmelzung des Lernens mit festen Erwartungen und Verhaltensweisen obsolet, sie wird auch von den Betroffenen als Last verspürt; die Weiterentwicklung des Lernens wird unabweisbar. Wie der Freiraum der Universität die Krise des Lernens in Gang setzt, so spitzt der Freiraum der psychologischen Behandlung die Krise des individuellen Falles zu, indem nun übertragen, ohne daß gleichzeitig verdeckt werden kann.

Entwicklungspsychologisch wird der Student zurückgeworfen in eine vorschulische Problemlage, die damals unlösbar war und für welche die Schule eine kompensatorische Lösung bot. Die Weiterentwicklung des Lernens muß also jene Probleme der Seelenbildung aufgreifen, für die in der Vorschulzeit keine Anleitungen und Vorbilder zur Verfügung standen. Die Studenten waren in der Kindheit Szenarien ausgesetzt, in denen es um Gedeih und Verderb, um Macht, Liebe und Glanz ging. Diese Bedürfnisse hatten gar keinen Entwicklungsspielraum, sie wurden in der Familie ständig evoziert, ohne daß ihnen aber Entfaltungsformen ermöglicht wurden. In den Familien gab es keine Freiheit, den Szenarien zu entgehen, es einmal anders zu machen bzw. einmal durch andere Methoden die Bedürfnisse zu stillen. Es gab auch nicht die Möglichkeit der Distanzierung durch Nichtbeachtung oder Liegenlassen. Ganz regelmäßig wurde übersehen, daß das Kind eigene Sichtweisen haben könnte, zu denen die Eltern erst jeweils ihre spezifische Zugangsweise zu entwickeln haben, daß eine spontane Zugangsweise nicht automatisch für beide Seiten befriedigend ist. Jene eben genannten Kategorien wie Freiheit, es anders zu probieren, Distanzierung, Liegenlassen, Sichtweise und Zugangsweise sind aber auch Kategorien, die das universitäre Lernen vom schulischen unterscheiden.

Wissenschaft heißt Wissen schaffen

Das Lernen an der Universität ist qualitativ ein anderes als das an der Schule. Das einlinige Aneignungsmodell, das den Zusammenhang von Rezipient und Kenntnissen ignoriert, muß aufgegeben werden; denn das universitäre Lernen folgt den Gesetzen der Entwicklung eines Gegenstandes, der Entwicklung eines Interesses.

Dazu gehört die Erfahrung der Vereinzelung, die Aufhebung des Klassenverbandes zugunsten Gruppierungen gleichen Interesses. Dazu gehört die Erfahrung des Liegenlassens und Wiederaufgreifens, sowie die Erfahrung verschiedener Zugangsweisen, anschaulich erlebbar durch verschiedene Professoren, die unterschiedliche Lehrmeinungen vertreten. Dazu gehört die Erfahrung von Methodengebundenheit und Methodennotwendigkeit. Das neue Bild vom Lernen ist das einer Produktionsgemeinschaft, die Wissen schafft. Nicht umsonst bedeutet ‚Immatrikulation‘: Mitglied einer Universität werden. Im Unterschied zur Schule, die Wissen vornehmlich weitergibt und wo die Trennung zwischen Lernenden und Lehrenden daher eine prinzipielle ist, gilt diese Trennung in der Wissenschaft, die ja ihre Gegenstände erst entwickeln muß, nicht. Auch der Student ist vom Grundsatz her an dieser Gegenstandsbildung von Anfang an beteiligt.

Durch diese Charakterisierung universitären Lernens wird deutlich, daß dieses ein anderes ist als schulisches Lernen. Schule, Universität und auch das Berufsleben haben jeweils ihre eigenen Lern-Gestalten. Ebenso ist Schulwissen etwas eigenes und anderes als universitäres Wissen und dieses wieder etwas eigenes und anderes als berufliches Wissen. Natürlich scheint es zunächst einfacher, am einlinigen Aneignungsmodell des Lernens festzuhalten, weil das nicht verlangt, jeweils eigene Lern-Gestalten herauszuarbeiten, jeweils spezifische Lösungen für das Lernen in der Schule, für das an der Universität und für das berufliche Lernen zu suchen.

Die bereits wahrnehmbare Lern-Gestalt der Universität wird zu diskreditieren versucht, indem sie mit dem ‚HUMBOLDTschen Ideal‘, das sich in der heutigen Zeit nicht mehr halten lasse, zusammengebracht wird. Ich bin nicht befugt zu prüfen, ob die Benennung dieser Gestalt mit dem Namen HUMBOLDTs berechtigt ist oder nicht, jedoch kann ich sicher sagen, daß die Behauptung, die vorgestellte Lerngestalt sei eine veraltete, und die Propagierung, es ginge an der Universität gegenwärtig vordringlich um eine effektivere Vermittlung von Kenntnissen, eine Verdrehung der Verhältnisse ist. Ein entwickelteres Bild — das der Produktionsgemeinschaft — soll zurückgedreht werden zugunsten eines primitiveren Aneignungsmodells.

Die Hartnäckigkeit, mit der dieses einlinige Modell auch in der Hochschulpolitik gehalten wird, erinnert an die Hartnäckigkeit, mit der Problemstudenten versuchen, ihre Schulmethoden in die Universität zu übertragen. Und wie sich die Bilder gleichen: Während diese an Bildern der Instrumentalisierung des Wissens festhalten wollen und dadurch in der Universität zu scheitern drohen, können jene genau solche Forderungen perpetuieren, die diesen Bildern entsprechen, und so das Vorankommen des Nachwuchses gewollt-ungewollt verhindern. So besteht die Leistung mancher Studenten darin, nicht nur gegen die Verführung eines früher erfolgreichen Musters, sondern auch noch gegen den äußeren Druck, der ihnen genau dieses anempfiehlt, ein neues Lernmodell zu erwerben, das dem Leben an der Universität angemessener ist

 

Literatur:
DELLEN, R. G. (1977): Studieren als Lebensform. Köln
MANNHEIM-ROUZEAUD, R. (1992): Der Übergang von der Schule zur Universität. Düsseldorfer Uni-Zeitung, (21)1
SALBER, W. (1980): Konstruktion psychologischer Behandlung. Bonn
WATZLAWICK, P. et al (1974): Lösungen. Bern

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