SIGMUND FREUD

ALS PSYCHOLOGE

Rainer Mannheim-Rouzeaud

 

In Informationsveranstaltungen und Diskussionen über Psychotherapie habe ich oft die Erfahrung gemacht, daß nach einiger Zeit von ärztlicher Seite das Argument vorgebracht wird, "schließlich sei auch Freud Arzt gewesen". Damit soll die Behauptung belegt werden, die psychotherapeutische Tätigkeit sei eine ärztliche, zumindest jedoch müsse sie von Ärzten kontrolliert werden. Es lohnt sich daher, noch einmal bei Freud selbst nachzulesen, wie er bei seiner Arbeit vorgegangen ist und wie er selbst seine Tätigkeit eingeschätzt hat. Mit Erstaunen wird man feststellen, wie aktuell die von Freud entwickelte Position ist, wenn es um die Abgrenzung der psychotherapeutischen Tätigkeit von der medizinischen geht.

 

Freud hat seine Tätigkeit mehrfach beschrieben, z.B.: "Nachdem der Kranke ein erstes Mal seine Geschichte erzählt hat, fordern wir ihn auf, sich ganz seinen Einfällen zu überlassen und ohne jeden kritischen Rückhalt vorzubringen, was ihm in den Sinn kommt" (aus "Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse", 1906; Ges. Werke Bd. VII, S. 9). Freuds Handwerkszeug war also das Wort, und konsequent betonte er, daß "Psychische Behandlung" nicht meine "Behandlung der krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens", sondern "Behandlung von der Seele aus". (aus "Psychische Behandlung [Seelenbehandlung]", 1905, Gs. W. Bd. V, S. 289)

 

Freuds Methodenbewußtsein

Diese Bewußtheit der Methode war bei Freud so tief ausgeprägt, daß sie wie automatisch abzulaufen schien. In all seinen Tätigkeitsberichten und Fallbeschreibungen gibt es keine Stelle, wo er die Ebene des Seelischen verließe und ins Körperliche wechselte. Freud blieb ganz beim seelischen Material: bei den Erzählungen seiner Patienten, bei deren Art, es zu erzählen, und bei der Beschreibung ihrer Verhaltensweisen. Aus diesem Material — und nur aus diesem — entwarf er seine Konstruktionen.

Dabei war Freud weit davon entfernt, somatische Einflüsse auf die Entstehung von Neurosen zu leugnen; er vermutete sogar, daß diese bei jeder vorhanden wären. Aber er wußte: Das war nicht sein Gegenstand. »An sich ist ja jede Wissenschaft einseitig, sie muß es sein, indem sie sich auf bestimmte Inhalte, Gesichtspunkte, Methoden einschränkt. Es ist ein Widersinn, an dem ich keinen Anteil haben möchte, daß man eine Wissenschaft gegen eine andere ausspielt." (aus "Die Frage der Laienanalyse", 1926, Ges. W. Bd. XIV, S. 263)

Von seinem Werdegang her wäre Freud geradezu dafür prädestiniert gewesen, ständig ins Physiologische zu wechseln. Mit physiologischen Arbeiten hatte er Erfolge gehabt und nur die Rücksicht auf die "schlechte materielle Lage" brachte ihn dazu, »die theoretische Laufbahn aufzugeben"... »Den materiellen Anforderungen trug ich Rechnung, indem ich das Studium der Nervenkrankheiten begann. Dieses Spezialfach wurde damals in Wien wenig gepflegt, . . . man mußte sein eigener Lehrer sein." (aus "Selbstdarstellung", 1925, Ges. W. Bd. XIV, S. 36)

 

Der Berufswechsel

In Paris, wo Freud dank eines Reisestipendiums bei Charcot arbeiten konnte, erlebte er, wie unbefangen man sich dort der Hypnose bediente und wie bereitwillig man Phänomenen Raum gab, für die es in Wien offensichtlich keinen Platz gab, wie z.B. dem Auftreten hysterischer Symptome bei männlichen Patienten.

"Wenn man von der Behandlung Nervenkranker leben wollte, mußte man offenbar ihnen etwas leisten können" (,‚Selbstdarstellung", Ges. W. Bd. XIV, S. 39), erläuterte Freud und schilderte, wie die Hypnose sein hauptsächliches therapeutisches Instrument wurde. Die Konsequenz daraus zog Freud ganz automatisch: "Damit war zwar der Verzicht auf die Behandlung der organischen Nervenkrankheiten gegeben"... (,‚Selbstdarstellung", Ges. W. Bd. XIV, S. 40)

In seiner praktischen Arbeit - 1886 hatte sich Freud in Wien niedergelassen - vollzog er den Wechsel vom Arzt, der Medizin studiert hatte, zum Psychotherapeuten, der psychologisch forschte. Leicht hätte Freud, ähnlich wie man heute von "minimalen cerebralen Dysfunktionen" redet, von "Zirkulationsstörungen", "Intoxikationen" und "degenerativen Hirnprozessen" sprechen können. Mit einem Bild erläuterte Freud das Verhältnis des Seelischen zu körperlichen Vorgängen. Freud schrieb: "Soll man aus solchen Beobachtungen nicht folgern müssen, daß die Verursachung der Vergeßlichkeit und speziell des Namenvergessens in Zirkulations- und allgemeinen Funktionsstörungen des Großhirns gelegen ist, und sich darum psychologische Erklärungsversuche für diese Phänomene ersparen? Ich meine keineswegs; . . . An Stelle einer Auseinandersetzung will ich aber ein Gleichnis zur Erledigung des Einwandes bringen.

Nehmen wir an, ich sei so unvorsichtig gewesen, zur Nachtzeit in einer menschenleeren Gegend der Großstadt spazieren zu gehen, werde überfallen und meiner Uhr und Börse beraubt. An der nächsten Polizeiwache erstatte ich dann Meldung mit den Worten: Ich bin in dieser und jener Straße gewesen, dort haben Einsamkeit und Dunkelheit mir Uhr und Börse weggenommen. Obwohl ich in diesen Worten nichts gesagt hätte, was nicht richtig wäre, liefe ich doch Gefahr, nach dem Wortlaut meiner Meldung für nicht ganz richtig im Kopf gehalten zu werden. Der Sachverhalt kann in korrekter Weise nur so beschrieben werden, daß, von der Einsamkeit des Ortes begünstigt, unter dem Schutze der Dunkelheit unbekannte Täter mich meiner Kostbarkeiten beraubt haben. Nun denn, der Sachverhalt beim Namenvergessen braucht kein anderer zu sein; durch Ermüdung, Zirkulationsstörung und Intoxikation begünstigt, raubt mir eine unbekannte psychische Macht die Verfügung über die meinem Gedächtnis zustehenden Eigennamen, dieselbe Macht, welche in anderen Fällen dasselbe Versagen des Gedächtnisses bei voller Gesundheit und Leistungsfähigkeit zustande bringen kann." (aus: "Zur Psychopathologie des Alltagslebens", 1905. Ges. W. Bd. IV, S. 27/28)

 

Exkurs über Diagnostik

Während Freud in seinen Behandlungen und seinen theoretischen Konstruktionen zwischen medizinischer und psychologischer Gegenstandsbildung klar unterschieden hat, hatte er diese Trennung in bezug auf die Diagnostik noch nicht vollzogen. Obwohl er ausdrücklich empfahl, daß die medizinische Untersuchung nicht vom behandelnden Psychotherapeuten durchgeführt werden solle, meinte Freud, nur der Arzt könne die "Differentialdiagnose" stellen, ob ein Symptom körperlich oder seelisch bedingt sei.

Daraus kann man Freud wohl kaum einen Vorwurf machen, waren doch wesentliche Instrumente einer psychologischen Diagnostik noch gar nicht entwickelt. Um so erstaunlicher ist es, daß heute - 70 Jahre später - trotz wissenschaftstheoretischer und praktischer Klärung immer noch das Gleiche gesagt werden kann. Denn eine solche Diagnose gibt es nicht, weil eine Diagnose nur mit Hilfe von Methoden gewonnen werden kann. Ein medizinischer Befund liegt ja nicht auf der Hand, sondern er muß in - manchmal sehr aufwendigen - Prozeduren hergestellt werden. Der Arzt findet entweder einen körperlichen Befund oder er findet keinen. Findet er keinen, müßte er korrekterweise sagen: "Ich weiß nicht, woher die Symptome kommen; medizinisch kann ich nichts finden." Statt dessen hat sich dort, wo kein medizinischer Befund gewonnen werden kann, der Sprachgebrauch "seelisch bedingt" oder "psychogen" eingebürgert. Das ist aber eine Grenzüberschreitung ins Unwissenschaftliche. Ebenso wie die Medizin für ihre Diagnose einen methodischen Aufwand treiben muß, muß das der Psychotherapeut in der psychologischen Diagnostik tun. Auch hier gilt: Der seelische Befund muß hergestellt werden; und der Therapeut kann nur mittels seiner Theorie und Methode sagen, ob er fündig geworden ist oder nicht. So - und nur so - funktioniert wissenschaftlich fundierte Diagnostik. Sie erlaubt es, einen Bereich scharf in den Blick zu nehmen, und kann nur über diesen Bereich eine Aussage treffen. Wer behauptet, er könne eine Art übergeordneter Diagnostik betreiben, die beide Gebiete in den Blick nehmen könnte, sieht in Wirklichkeit gar nichts. Es gilt also zu akzeptieren, daß es Fälle gibt, in denen sowohl medizinisch als auch psychologisch kein Befund erstellt werden kann. Solches Niemandsland nicht zu besetzen, scheint mir eine Voraussetzung für verantwortliches therapeutisches Handeln.

Vergleicht man das Vorgehen während einer medizinischen und einer psychologischen Diagnostik, dann wird sehr schnell sichtbar, daß es sich um zwei ganz verschiedene Prozesse handelt, die man keineswegs gleichzeitig verfolgen kann. Geht man den einen Weg, führt das notwendig von dem anderen fort. Während für den Arzt die Worte des Patienten Hinweise dafür sind, wo er - am Körper - weitersuchen muß, spielt die Lokalisation in der psychologischen Diagnostik gar keine Rolle; hier ist der Blick auf das "Wie", die Art des Umgangs, gerichtet, was für die ärztliche Tätigkeit völlig belanglos ist. Erfahrung und Erkenntnis der methodischen Gebundenheit der Wahrnehmung zeigen, daß man eine Zentrierung in einem Arbeitsgang nicht wechseln kann.

Gelegentlich versteigen sich Ärzte sogar zu dem Vorwurf, der nichtärztliche Psychotherapeut könne eine somatische Ursache übersehen. Dieser Vorwurf erweist sich als doppelt verdreht: Wie dargelegt, kann man einem nicht vorwerfen, etwas übersehen zu haben, was man methodisch nicht in den Blick genommen hat. Darüber hinaus wird aber die Existenz einer übergeordneten Art von Diagnostik unterstellt, die nun als Vorwurf gegen den Psychologen gerichtet wird. Das gleicht dem Vorwurf an einen Fußballer, daß er keine Tore werfe.

Seitdem es Computer gibt, läßt sich das Verhältnis zwischen medizinischer und psychologischer Diagnostik und Behandlung sehr anschaulich vergleichen: Wenn ein Computer "spinnt", dann muß man sich entscheiden, ob man den Fehler in der Hardware oder im Programm suchen will. Es bringt um nichts weiter, die Abhängigkeit des einen Systems vom anderen zu betonen.

 

"Die Frage der Laienanalyse"

Unter diesem Titel veröffentlichte Freud 1926 einen Artikel, der sich mit der Frage, ob auch Nichtärzte die Analyse ausüben sollten, auseinandersetzt. Der Anlaß dazu war, wie Freud im Nachwort erläuterte, daß Theodor Reik, Psychoanalytiker, aber nicht Arzt, in Wien wegen Kurpfuscherei angezeigt worden war. Um sich die Aktualität dieser Schrift zu vergegenwärtigen, kann man jedesmal, wo Freud von "Psychoanalyse" spricht, sich das Wort "Psychotherapie" vorstellen. Denn zu jener Zeit war die Analyse die einzige Psychotherapiemethode, die sich um eine wissenschaftliche Fundierung bemühte.

Freud erfand in seiner Schrift einen "Unparteiischen", den er in die Theorie und Methode der Psychoanalyse einführt, um daran zu zeigen, daß es sich bei seiner Arbeit und der Medizin um zwei verschiedene Gegenstandsbildungen handelt. Ausgehend von der Eigenart der analytischen Situation, deren Mittel das Wort ist, erläuterte Freud die analytische Theorie des Seelischen - also ein Stück Psychologie - und erklärte dann, wie das Wort in der Analyse methodisch gehandhabt werden muß. Er faßte zusammen: "Aber wer eine solche Unterweisung durchgemacht hat, selbst analysiert worden ist, von der Psychologie des Unbewußten erfaßt hat, was sich heute lehren läßt, in der Wissenschaft des Sexuallebens Bescheid weiß, und die heikle Technik der Psychoanalyse erlernt hat, die Deutungskunst, die Bekämpfung der Widerstände und die Handhabung der Übertragung, der ist kein Laie mehr auf dem Gebiet der Psychoanalyse." (,‚Die Frage der Laienanalyse", Ges. W. Bd. XIV, S. 260)

Freud nahm kein Blatt vor den Mund: Er betonte, daß die medizinische Schulung den Ärzten "eine falsche und schädliche Einstellung" mitgebe, warnte, daß die Ärzte "der laienhaften Respektlosigkeit vor der psychologischen Forschung" verfielen, sprach sogar von "ärztlichen Kurpfuschern in der Analyse". Geradezu prophetisch sah er voraus: "Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde, und dann ihre endgiltige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde, im Kapitel Therapie, neben Verfahren wie hypnotische Suggestion, Autosuggestion, Persuasion, die, aus unserer Unwissenheit geschöpft, ihre kurzlebigen Wirkungen der Trägheit und Feigheit der Menschenmassen danken." (S. 283) Seine Forderung, "daß niemand die Analyse ausüben soll, der nicht die Berechtigung dazu durch eine bestimmte Ausbildung erworben hat", blieb jedoch hinter seiner tatsächlichen Leistung, nämlich die Psychotherapie aus der Medizin herausgeführt zu haben, zurück. Aber im Nachwort, das 1927 dazukam, ließ Freud dann keinen Zweifel mehr: "Es wird meinen Lesern nicht entgangen sein, daß ich im vorstehenden etwas wie selbstverständlich vorausgesetzt habe, was in den Diskussionen noch heftig umstritten wird. Nämlich, daß die Psychoanalyse kein Spezialfach der Medizin ist. Ich sehe nicht, wie man sich sträuben kann, das zu erkennen. Die Psychoanalyse ist ein Stück Psychologie,..." (S. 289)

Das ist keine Alterserkenntnis von Freud. Bereits 1914 schrieb er in einem kurzen Beitrag zu einer Festschrift seines früheren Gymnasiums: "Ich bin dann Arzt geworden, aber eigentlich doch eher Psychologe" (aus: "Zur Psychologie des Gymnasiasten", 1913, Ges. W. Bad. X, S. 205)

 

Zusammenfassung

In der Auseinandersetzung zwischen Psychologenschaft und Ärzteschaft um das Gebiet der Psychotherapie wird Sigmund Freud wie selbstverständlich von der Ärzteschaft vereinnahmt. Er sei doch Arzt gewesen, heißt es da. Daß Freud selbst keineswegs die Psychoanalyse in die Medizin eingeordnet wissen wollte, wird dabei geflissentlich übergangen. Übersehen wird auch, daß der Streit überhaupt nur bestehen kann, wenn man die Notwendigkeit von Methoden, also einem Kennzeichen von Wissenschaftlichkeit, negiert. Freud verzichtete auf die Behandlung organischer Nervenkrankheiten und entwickelte statt dessen eine psychologische Sicht, die er Psychoanalyse nannte. Daß ihm das selbst sehr bewußt war, wird nicht nur an dem Material seiner Fälle, sondern auch seinen theoretischen Äußerungen deutlich. Seine Hauptschrift zu diesem Thema "Die Frage der Laienanalyse" liest sich heute wie ein brandaktueller Essay zur Frage: Was ist Psychotherapie, und wer soll sie ausüben dürfen?

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