(von Rainer Mannheim-Rouzeaud)
Wenn Psychotherapie auf wissenschaftlichem Niveau (über)leben will, dann muss sie ihre Verbindungen zur Psychologie behaupten. Das meine ich im doppelten Wortsinn, denn das ist – seitdem sich die Psychotherapie ins Prokrustes-Bett der Medizin gelegt hat – nicht mehr selbstverständlich. Das bedeutet auch, dass sie ihr eigenes Verhalten, ihren eigenen Zustand einer psychologischen Analyse zu unterziehen, bereit sein muss. Die Auseinandersetzungen über den PNP-Vertrag in Baden-Württemberg hat eine psychologische Analyse von Versorgungssystemen geradezu evoziert, die ich hier kurz in einigen wesentlichen Strukturzügen beschreiben will:
1. Zu Beginn steht ein Versorgungsversprechen ( das impliziert zu Versorgende und Versorger)
2. Errichtung einer Grenze draußen-drinnen mit Abschottung (Austauschverbot)
3. Hierarchisierung im System mit Monopolisierungstendenz (Liebeszwang)
4. „Mehr“ (Wachstum) entsteht nicht durch Entwicklungsarbeit, sondern wird durch Regulierungen und Versprechen gebremst (dadurch entsteht und verschleiert sich Gier)
5. Verkehrungen/Umschlagverhältnisse etablieren sich (aus den Versorgten können Schmarotzer, aus den Versorgern Ausbeuter werden). Diese sollen durch Moral und Verbote gebannt werden.
6. Scheitern an Entwicklungsnotwendigkeiten; statt Weiterentwicklung aus der Sache kommt es zu Vorgaben aus dem (abgespaltenem) Außen.
Diese abstrakten Strukturkennzeichen von Versorgungssystemen werden erst anschaulich durch ein Bild. Das Märchenbild Der Wolf und die sieben Geißlein kann die aktuelle Situation der Psychotherapie verständlich machen. Das ist kein Wunder, denn im – psychologischen – Kern dieses Märchens geht es um Versorgung, Versorgungsversprechen, um Versorgungssysteme und deren Implikationen:
Gleich zu Beginn des Märchens wird das deutlich: Die Geißenmutter geht „Futter holen“. Und das geht nicht mehr wie im Säuglingsstadium durch Dableiben und säugen, sondern sie muss dafür aus dem Haus (in die Welt) gehen. In der Formel „Futter holen“ liegt das Paradox der Versorgungssysteme: Was drinnen zur Verteilung kommt, muss doch von draußen irgendwie rein kommen. Und gleich im nächsten Satz warnt die Geißenmutter vor dem draußen und schließt damit das System zu.
Aus Schutzgründen soll das Versorgungssystem nach außen geschlossen bleiben, ein Austauschverbot zwischen drinnen und draußen wird etabliert. Doch die Kehrseite davon soll im Unbewussten gehalten werden: Wachstumsstopp und Errichtung eines Oben-Unten-Systems, denn Versorger brauchen Unmündige, die versorgt werden müssen. Das ist der wölfische Charakter, der diesen Systemen eigen ist. Sie versprechen Versorgung und etablieren ein System, das sich aber – aufgrund seiner Abschottung und Entwicklungsfeindlichkeit – verkehren und deshalb zum Verschlingenden (der Kleinen, Jungen) werden kann. Die liebende Geißenmutter und der betrügerische Wolf, das ist eine Doppelgestalt, es ist die gleiche Person, das implizite Janusgesicht des Versorgungssystems, bzw. dessen, der „mehr“ Versorgung verspricht.
Es wäre zu simpel, die KV als liebende Geißenmutter und medi als den bösen Wolf zu sehen und die Psychotherapeuten als die kleinen Geißlein, obwohl diese erste Version nicht gänzlich falsch wäre. Denn es ist zur Zeit der „medi-Wolf“, der die bessere Versorgung verspricht und mit kreidesamtener Stimme die Psychotherapeutlein lockt, Diese empfinden – nicht zu Unrecht – die Gutachterberichte und Unterbezahlung der Eingangsphase der Psychotherapie als unerträgliche Wackersteine im „Bauch“ der KV, aus dem sie endlich herausgeschnitten werden wollen. Doch geraten sie damit nicht in die Freiheit eigener Entwicklungsarbeit, sondern in den neuen Bauch von medi. (Erklärtes Ziel des Vertrages ist nicht Ergänzung, sondern Ersatz des KV-Angebots.) Und medi ist kein Psychotherapie-Freundschaftsverein, deswegen die klare Vorschaltung der Hausarztes. Nun, in dessen Bauch könnte es noch dunkler sein als im KV-Haus, denn nun ist es der fachfremde (Haus-)Arzt, der bestimmt, wer Psychotherapie bekommt, mit dem Versprechen: in dessen Bauch darf man dann „machen, was man will“ = wild herumzappeln.
Das psychologisch Interessante an solcher Art geschlossener Versorgungssysteme ist, dass sie immer ein Oben-Unten ausbilden, müssen, immer auf Kosten der Systemschwächeren, obwohl sie gerade diesen Verbesserungen versprechen. Das kann man treffend mit dem Ausdruck „Liebeszwang“ zusammenfassen. (Mehr zu Liebeszwangsstrukturen findet sich in: Gloria BECKER: Kontrolle und Macht 1 )
Der Medi-Vertrag verspricht mehr Psychotherapeutenstellen durch Anstellung neuer, junger Psychotherapeuten in Großpraxen. Das heißt aber nichts anderes, als die Dominanz solcher Großpraxen-Inhaber fördern und die dort arbeitenden Psychotherapeutlein klein halten – wollen. Versorgungssysteme versorgen offensichtlich ihre Protagonisten am besten und wie das Märchen zeigt, durchaus auf Kosten der „Jungen“. Das ist auch im KV-System nicht anders. Die „jungen“ Psychotherapeuten müssen Gutachterberichte sogar für Kurzzeittherapien erstellen. Und das nach Studium und sehr aufwendiger Zusatzausbildung. Dabei sind die Therapien der „Jungen“ – gerade wegen ihrer Nähe zur Zusatzausbildung – noch nicht von der nachlässigen Routine der Älteren bedroht. Honi soit qui mal y pense !
Und was die Großpraxen-Inhaber im PNP-Vertragssystem sein werden, dass sind die Gutachter im KV-System schon heute: Gierige Wölfe, die aus der Arbeit der „Kleinen“ ihren Profit schlagen. Nicht nur ist die Bezeichnung „Gutachten“ genauso falsch wie die weiße Pfote des Wolfes. Denn es ist ja eben kein Gutachten, das der „Gutachter“ erstellt, sondern er beurteilt nur eine – sehr aufwendige – Arbeit eines anderen. Das Objekt seines „Gutachtens“ hat er nie zu Gesicht bekommen, ein ziemlich einmaliger Vorgang in der Gutachterwelt. Aber noch gravierender ist die ausbeuterische Unterbezahlung für diese Arbeit des Psychotherapeuten im Vergleich zum geradezu fürstlichen Honorar des „Gutachters“. (Diejenigen „Gutachter“, die sich nachdrücklich dafür eingesetzt haben, dass die Vergütung der Berichteschreiber, die die eigentliche Arbeit leisten, in angemessene Relation zur eigenen Vergütung gesetzt werden soll, nehme ich ausdrücklich von diesem Vorwurf aus ! )
Das Märchen zeigt die geheimen Motive: Das Versprechen besserer Versorgung eignet sich hervorragend, um wölfische Absichten zu maskieren.
Was haben wir nun von einem solchen – psychologischen – Bild? Das Märchen bietet in der Version für Erwachsene – wie ich sie hier vorstelle – keine Lösung. Es zeigt psychologische Umschlag-Verhältnisse, es klärt auf, macht Unbewusstes bewusst. Gut und Böse, Täuschung und Drohung lassen sich nicht personalisieren [Auch Patienten können als Wolfsgestalten im Versorgungssystem mitmischen], sondern werden als Verkehrungs-Entwicklungen deutlich. (Eine wissenschaftliche Analyse von Verkehrungsstrukturen findet sich in: Wilhelm SALBER: „Konstruktion psychologischer Behandlung“.)
Der Nutzen, der aus dem Bild erwächst, ist die daraus sichtbar werdende Freiheit, die Gegebenheiten anders zu sehen. (Paul Watzlawick hätte das eine „neue Interpunktion“ genannt. Das Austauschverbot zwischen drinnen und draußen kann z. B. hinterfragt werden.) Anderes zu wagen, wird möglich, weil die Ängste vor den Drohungen, die dann auftauchen werden, zugeordnet und abgewogen werden können. (Im Märchen kommen die Drohungen gleich zweifach (!) vor, einmal von der Geißenmutter, ja nichts von draußen rein zu lassen (Einlass- und Austauschverbot) und vom Wolf gegenüber dem die Täuschungshilfe verweigernden Müller (Vernichtungsdrohung).
Diese Drohungen sind möglich und wirksam, weil sie mit einer eigenartigen Eigenschaft der Geißlein korrespondieren, nämlich nicht erwachsen werden zu wollen/können. Statt ihr Geschick (z. B. durch Solidarität und Reformforderungen) in die eigene Hand zu nehmen, laufen sie wie wild umher (von einem Vertrag zum anderen) und hoffen auf befreiendes Herausgeschnitten werden. Wenn wir also etwas aus dem Märchen lernen können, dann ist es, dass wir selbst aktiv werden müssen und nicht mehr hoffen können, dass andere das für uns tun werden.